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Kalte Sterne

Kalte Sterne

CD Weird System 10.11.2006
  8 / 10

Weitere Informationen:
http://www.weirdsystem.de/


Die deutsche Sprache hat wirklich etwas Tolles an sich. Sie kann je nach Charakterzug etwas anderes meinen, aussagen oder zwei verschiedene Fronten in einen Grabenkrieg stürzen, der die Frage „Wer hat nun Recht?“ behandelt. Bei „Kalte Sterne“ wären das beispielsweise Wissenschaftler und Romantiker. Wo die Wissenschaftler den Begriff „Kalte Sterne“ als total hirnrissig beschreiben, weil Sterne durch eine exotherme (= Wärme abgebende) Reaktion (Kernfusion) nicht „kalt“ sein könnte, so kämpft die Gegenseite für eine andere Sichtweise. Romantiker begeben sich auf die metaphorische Ebene und beziehen sich eher auf Gefühlswelten und Bilder im übertragenen Sinne.
Der Punkrock-Sampler „Kalte Sterne“ steht – zum Leidwesen der Hardcore-Wissenschaftler – in diesem Falle zu den Romantikern. Denn die Doppel-CD hält wirbt mit vielen, aber dennoch passenden Worten: „Melancholie – Liebe – Verzweiflung; BRD-Punkrock- und Underground-Balladen“.

Das Cover macht auf dem ersten Blick schon mal einen schönen Eindruck und lässt einen auch wirklich an „Kälte“ denken. Ein tolles Farbenspiel von Schwarz und Blau überzeugt einen tatsächlich vom Sampler-Namen. Sehr schön und auch sehr authentisch gemacht! Die beiden Punks auf dem Cover sehen auch ziemlich verzweifelt und traurig aus. Allerdings schneidet da das Mädel zur Rechten ein wenig besser ab; und das ist sicher nicht hormonell begründet! Der Kerl zur Linken sieht eher nach „Scheisse man, wo ist mein Auto?“ aus, aber das ist nur eine subjektive Empfindung von mir.
Klappt man das Päckchen auf, lächelt einem der Text „Kalte Steine“ von „Neurotic Arseholes“ an. Dieser geizt nicht mit Worten wie „kalt“, „dunkel“, „schwarz“ oder „leer“. Damit ist nicht etwa eine Flasche Bier gemeint (auch wenn es einen so vermuten lässt). Die ganze Aufmachung sorgt also schon dafür, dass man vor dem ersten Ton des Tonträgers in die passende Stimmung versetzt wird…und das mit Erfolg. Wer auch noch die passenden Gefühle von Anfang an mitbringt, der wird erst recht merken, was ich meine.

Ganze 28 Bands und Songs hält die Zusammenstellung von „Weird System“ für uns bereit und hat wirklich viele Perlen aus dem großen Meer des Punkrocks ausgebuddelt. So konnten sie Bands wie „…But Alive“, „Die Toten Hosen“, „Dritte Wahl“, „Fliehende Stürme“, „Abwärts“, „Muff Potter“ und viele andere bekannte Bands für sich und ihr Projekt „Kalte Sterne“ gewinnen.
Die Songs fallen durch ihr festes Thema „Balladen“ trotzdem ziemlich abwechslungsreich auf – und das ist verdammt nochmal gut so!

Dabei ist die Bandbreite an Instrumenten und Stilmitteln wirklich beachtlich. Akustikgitarre, E-Gitarre, Bass, (kein) Schlagzeug, verschiedene Stimmarten (Gitarre und Bass), Synthesizer/Klavier und Geige sind nur ein Teil dessen, was diese Musik hier ausmacht. Auch die Sänger sorgen ordentlich für Stimmung und beeinflussen die Atmosphäre eines Stückes merklich. Bei „Turbostaat“ singt der Sänger noch ziemlich bedrückt zum minimalistischen Einsatz der Musikkulisse. Doch beim Refrain beginnt alles auszuschlagen: Wenige Sekunden vergehen nur, wenn der Sänger etwas lauter singt (ich will es nicht „schreien“ nennen, aber es kommt doch ziemlich nahe) und alles zu scheppern beginnt. Andere Lieder bleiben so ruhig wie sie sind und halten stets ihre Linie, um den steten Gefühlsfluss nicht zu stören. Dazu gehören zum Beispiel Konsorten wie „Dritte Wahl“, „Schrottgrenze“ oder „Tocotronic“. Man kann einfach nur da sitzen und lauschen…während man zu schweben und zu fühlen beginnt. Perfekt geeignet, um einfach vor sich hin zu denken. Dann gibt es natürlich auch jene Songs, die sich um eine Steigerung bemühen und der Ausweglosigkeit ein hartes und unbarmherziges Gesicht zu geben versuchen. Ganz gut gelungen sind dabei „Klischee“ von den Wohlstandskindern, die mit einem fetten Instrumental und einer schönen Geige dem Ende noch einmal den richtigen Kick geben. „Neurotic Arseholes“ versuchen die Steigerung weniger mit Instrumenten zu erreichen, als in Richtung Spitze zu singen. „Muff Potter“ dagegen lösen das sogar sehr elegant. Die Strophen ähneln weniger einem „Gedicht“, als einer Erzählung, die musikalisch untermalt wird. Und kaum glaubt man, dass das Lied dem Ende entgegen geht, kommt nochmal ein schöner Trommelwirbel und das Lied gewinnt nochmal an Höhe, bis es endgültig vorbei ist.
Das klingt doch schon mal sehr schön! So findet jeder verbitterte Trauerkloß sein Revier und kann sich dementsprechend rein steigern (je nach Fetisch auch markieren). Doch da gibt es noch ein paar Sachen, die ich nicht verstehe…

…und zwar die „anderen Interpreten“. Diejenigen, die ich persönlich sehr deplatziert auf der Doppel-Scheibe finde. Traurigerweise gehören auch Bands dazu, die an und für sich sehr gut sind. Jedoch haben sie auf der CD genau so wenig etwas zu suchen, wie die FDP was auf den Wahlzetteln der Bundestagswahlen. „Vorkriegsjugend“ ist leider so ein Fall. Das Lied „Die Pest“ ist ein fetter Song und hat zwar auch ein bisschen etwas von „Tod und Verzweiflung“, aber doch nicht auf „Kalte Sterne“! Wenn es mal einen Sampler geben sollte, der „Chaos-Sterne: Zerstörung - Wahnsinn – Irrsinn, die schönsten Lieder zum Irre-Werden“ heißt, dann könnte das Lied einen Platz dort finden. Aber von einem Song, in dem aus vollster Kehle geschrien wird, ein wildes „Hahahaha“ nach dem Refrain kommt und einfach gar nichts mit „Melancholie“ zu tun hat, kann man nicht erwarten, dass ich ihn wirklich als "schwemütig" anerkenne. Ähnlich verhält es sich mit „Nach Hause“ von „Elf“. Abgesehen von den Strophen (wo wirklich gesungen wird) passt einfach gar nichts. Das letzte Lied auf der ersten CD hat nicht mit schnellen Gitarrensoli zu beginnen, verdammte Sautucht noch eins! Der Refrain kann vielleicht in einer Trucker-Kneipe laufen, um die Fahrer daran zu erinnern, dass sie auch noch Frau und Kinder daheim sitzen haben und unter Umständen so laaaaangsam ihr zwölftes Bier leeren sollten. Aber auf „Kalte Sterne“ sollte das Lied nicht drauf sein, wirklich nicht. Weiterhin gesellen sich auch die Jungs von „Der Fluch“ dazu. Mit „Ewige Freundschaft“ kämpfen sie geradezu um meine Aufmerksamkeit. Und die bekommen sie auch, denn meines Erachtens ist dieses Lied die Nr.1 auf der Liste der Lieder, die das Thema dieser Kollektion verfehlen. „Ewige Freundschaft“ klingt eher wie ein Hippie-Titel, der händchenhaltend bei einem froh sinnenden Beisammensein großer Langhaarfetischisten gesungen wird. Nein danke! Die Band „Die Strafe“ macht eher halbe Sachen, da ich ihren Beitrag eher zwielichtig betrachte. Grundlegend nenne ich sie hier völlig zu Unrecht, aber der Gesang macht das Lied (teilweise!!!) durch den „Alkoholiker-Klang“ kaputt…schade, wo es doch größtenteils sehr gut funktioniert. Vor allem die Instrumente verdienen hier ein großes Lob. Wäre der Beitrag der Band ein reines Instrumental gewesen, wäre es sicher eines meiner Favoriten.

Aber gut, sehen wir einfach mal davon ab. Anderenfalls klingt einiges sehr nett, anderes sogar richtig geil! Somit bleibt der Gesamteindruck positiv und verdient eine besondere Beachtung. Man kann wunderbar sehen, dass Punkrock nicht nur Zerstörung, Alkohol und Gewalt-gegen-Gewalt bedeutet, sondern auch mal die Tiefen des Herzens berührt und sich mit Gefühlen (fernab von "Durst", "Hunger" und "Müdigkeit") beschäftigt. Ein bisschen Abstand wahrend, von den ganzen anderen Samplern, bietet das Werk von „Weird System“ einen tollen und schwemütigen Einblick in die Geschichte des Punkrocks, die sowohl für außenstehende, als auch für eingefleischte Szeneangehörige eine Überraschung bedeuten könnten. Natürlich kann nicht alles genannt werden, was noch hätte genannt werden können. Wer aber auf Melancholie und Co. steht, der hier wirklich einen Hörer riskieren.

Darum gibt es 8 von 10 kalten Sternen.


Geschrieben von ChaosZx2 am 19.08.2011, 00:00 Uhr


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